Martin Amanshauser

Ein Strand im Süden

Das quirlige Brighton gilt als London-by-the-sea, als London mit Lebensqualität,aber auch als europäische Gay Capital.

Der livrierte Aufpasser in der Spielhalle bleibt wachsam. Denn jetzt kommen Jugendliche, und die rütteln in unbeobachteten Momenten gerne an den Münzenschiebmaschinen. Die Versuchung ist groß! Bei stärkeren Erschütterungen alarmiert die Apparatur, doch manche Kids schaffen es, die Maschinen so in Bewegung zu setzen, dass eine Handvoll Pennymünzen in die nächste Ebene prasselt – ohne Sirene. Von dort werden sie weitergeschoben, und unten scheppert ein Gewinn ins Auszahlfach.

Es sind keine gigantischen Summen, die bei den Münzenschiebmaschinen am Brighton Pier den Besitzer wechseln. Es handelt sich um das kleine Gewinnspiel. Würde der Begriff existieren, wäre es sogar das winzige Gewinnspiel. Der Pier, eröffnet 1899, die Sensation der Seafront, ist durchdrungen vom familientauglichen Geist des vergangenen Jahrhunderts; ein Vergnügungsgebilde mit Spielhallen, Imbissbuden und einem kleinen Luna-Park.

Einst existierten drei Piers, vom ältesten, „The Royal Suspension Chain Pier“ (1823-1896), ist außer ein paar Eichenfundamenten, die bei Ebbe zutage treten, nichts übrig geblieben. An den Piers legten in Zeiten vor dem Eisenbahnbau Schiffe an. Damals führte die kürzeste Route zwischen London und Paris (Dampffähren ersetzten zunächst die Segelboote) über das ehemalige Fischerdorf Brighton. Ein Sturm beendete das Leben des stolzen Chain Piers, auf dem sogar King William IV gelandet war.

Der dritte Pier, namentlich West Pier, funktionierte 1866-1975. Noch in der Zwischenkriegszeit waren an ihm Ausflugsschiffe nach Frankreich gehangen. Danach diente er, abgeschnitten vom Landzugang, Starpopulationen als Heimstätte. Durch zwei Feuersbrünste im Jahr 2003 und einen Einsturz im Jahr 2004 wurde er zerstört, sein schwarz-verkohltes Eisenskelett befruchtet seitdem, knappe hundert Meter von der Küste entfernt, die Phantasie der Bewohner – und jene von Brightons berühmtesten Zuwanderer, Nick Cave. Der australische Musiker lässt den West Pier im Anfangskapitel seines Romans „The Death of Bunny Munro“ brennen, als „flammende, rauchende Ruine“, über der „eine dunkle Wolke von Staren wild tschilpend“ hängt.

Schlechte Nachricht für die Starschwärme, denn den Überresten des West Piers – immerhin die meistfotografierte urbane Attraktion – droht nun das Ende. Das Architektenpaar Julia Barfield und David Marks, die bereits das London Eye konstruiert haben, entwarfen für die Waterfront ein Riesending: das sogenannte i360. Hinter dem dieser bornierten PR-Bezeichnung verbirgt sich ein schlanker 175-Meter-Turm, von dessen Aussichtsplattform ein Panoramablick von mehr als 30 Kilometern und über den Kanal möglich sein wird – falls sich das Projekt tatsächlich verwirklichen lässt. In den Krisenjahren war es ruhig geworden um den i360, der bereits 2009 in Betrieb hätte gehen sollen. Heute prophezeit die i360-Homepage eine Eröffnung für 2013, Bauarbeiten werden jedoch erst begonnen, „as soon as the balance of the funding, which we are currently seeking, is in place“, irgendwann.

Vogelschwärme, Sonnenuntergänge und Showgirls. Auch ohne i360 ist die Waterfront rund ums Jahr eine Besonderheit – auch und vor allem im Winter, wenn es stürmt, nebelt und sich kaum Spaziergänger an die Küste verirren. Im Sommer zeigt Zentralbrighton ein völlig anderes Gesicht: Der Stein- und Kieselstrand füllt sich mit tiefroten Sonnenbränden, leeren Bierdosen, schwelenden Einweggrillern. Südbriten, deren härteste Exemplare sich zugute halten, rund ums Jahr in die Kanalfluten springen zu können, empfinden sie dann folgerichtig als lauwarm. Im Hintergrund: Enorme Vogelschwärme, herrliche Sonnenuntergänge.

Wem es dort zu menschlich wird, der nimmt die Volk´s Electric Railway, eine Schmalspureisenbahn. Sie nimmt neben dem heutigen Pier, an der Wurzel des alten Chain Piers, ihren Ausgang. Es ist die älteste elektrische Eisenbahn der Welt, die durchgehend in Betrieb blieb. Magnus Volk, ein Pionier deutscher Abstammung, baute sogar eine spektakuläre Verlängerung, die „Brighton and Rottingdean Seashore Electric Railway“, bei den Einwohnern auch unter der Bezeichnung „Daddy Long Legs“ bekannt. Diese  Oberleitungsstraßenbahn fuhr zwischen 1896 und 1901 auf sieben Meter hohen Stelzen durch schäumende Ebbe und Flut. Gelegentlich sieht man Reste der Betonfundamente dieses „Weberknechts“, der zum östlichen Brightonstrand führte, wo die Kreidefelsen wieder in Strand übergehen und im Sommer FKK-Menschen liegen, denen anderswo der Trubel zu groß ist.

Trubel wäre ein gutes Synonym für Brighton: Zuerst sind da die „Laines“, kleine Hinterstraßen, mit Spezialgeschäften wie dem „Vegetarian Shoes“, in dem Paul McCartney kauft. Außerdem verstreuen sich mehr als dreihundert Pubs über die Innenstadt und das angrenzende, in die Gemeinde integrierte Städtchen Hove. Glaubt man den Einheimischen, sind es die besten der Welt. Das „Hand in Hand“ hat etwa nur vier Tische, dafür aber eine eigene Brauerei. An Orten wie „The Greys“ spielen die Livebands der Stadt – nirgends soll es, anteilsmäßig an der Bevölkerung, so viele Musiker geben wie hier. Es herrscht erhöhter Musikbedarf aller Richtungen, nicht nur für die sandalentragenden, rohkostverschlingenden, yogafixierten Althippies und den Nostalgikern, die daran erinnern, dass in der Monsterhalle „The Dome“ ABBA 1974 mit „Waterloo“ den Songcontest gewannen. In der Gegenwart sind sind Orte wie „The Komedia“ mit Live-Musik und Stand-up-comedy oder das schrullig-kitschige „Bom-Bane´s“ (benannt nach der Besitzerin Jane) von besonderem Interesse. In letzterem isst man hervorragend „belgische und andere europäische Küche“ – sofern man sich auf- und abbewegende Tische gemütlich findet. Untertags lockt das ewig volle Foodilic, das beste (und wohl günstigste) Buffet Südenglands.

Ein anderes Synonym ist die Schwulenszene. Nur San Francisco – wird hier gerne gesagt – habe eine imposantere als die „gay capital of Europe“. Das Stadtviertel Kemptown bietet von Men-only-Pubs bis zu den härteren Sexumschlagplätzen alle Subkulturen, mit denen sich die gleichgeschlechtliche (teilweise auch freie) Liebe ausdrückt. Mit „16 wunderschöne Showgirls, die alle Männer sind!“, wird eine Ladyboy-Show angekündigt – oder „Wild fruit – God save the Queens“, aufregende Showtitel, wohin das Auge reicht. Die Stadt ist durchwirkt von dieser Schwulenkultur, in den Deli-Läden in der St. James Street und Old Steine bedienen Transgendermenschen, durch die Lanes, die verwinkelten Gassen am Meer, und die etwas hipperen North Laines mit ihren Antiquitätenlaeden, spazieren Elton-John-Paare oder normale Lederjackenschwule.

Aber Achtung! Brighton ist zwar kosmopolitisch, aber weiß und wohlhabend. Es herrscht eine beachtliche Unterrepräsentation von jenen Indern, Pakistani oder Afrikanern – untypisch für eine britische Stadt dieser Größe, woraus definitiv ein Manko am Gastronomiesektor entsteht. Noch immer haftet der Stadt der Hauch des Seebads an, eines „London by the sea“ mit gepflegtem Nachmittagtee. Ein repräsentativer Ort viktorianischer Hochnäsigkeit – nichtsdestotrotz von zeitloser Eleganz – ist das Grand Hotel an der Waterfront aus dem Jahr 1864.

Einst war man hier stolz auf den „vertical omnibus“, den einzigen Lift auf der Insel außerhalb von London, betrieben mit Wasserkraft. In den Fünfziger Jahren musste es beinahe einem Shopping-Center weichen. In die Schlagzeilen geriet das Haus 1984, als Premierministerin Thatcher in seinen Räumlichkeiten den Kongress der konservativen Partei abzuhalten gedachte. Am 12. Oktober gegen 3 Uhr morgens riss eine IRA-Bombe einen Streifen der Verwüstung durch den Hotelkern. Fünf Menschen starben, die Eiserne Lady selbst erwies sich als unverwundbar, obwohl ihr Badezimmer kollabierte. Am Morgen ließ sie es sich nicht nehmen, den Kongress zur vorgesehenen Zeit zu eröffnen.

Jung und alt. Brighton ist eine junge Stadt, doch seitlich flankiert von landesbekannten Rentnerstädten, Worthing und Eastbourne. An Wochenenden hängen Senioren am Pier in den blauweiß gestreiften Liegestühlen, trinken Tee und werfen säckeweise 2-Pence-Münzen in die Münzschiebmaschinen – und der livrierte Aufpasser wirft, vielleicht zu Unrecht, keine misstrauischen Blicke auf ihre Aktivitäten.

Eventuell besuchen sie den verschrobenen Royal Pavilion, dessen Bau im 18. Jahrhundert begonnen wurde, die vielleicht einzige klassische Sehenswürdigkeit der Stadt. Außen indisch-sarazenisch, innen chinoisierend, war er ursprünglich ein Sommerhäuschen für die Royals, die jedoch bald das Interesse am Exotismus verloren und ihn 1850 der Stadt verkauften.

Die von der Besichtigung dieses atemberaubend seltsamen Dings erschöpften Senioren begeben sich anschließend zu Bankers in die Western Road (Hove), der angesagtesten barrierefreien Fish&Chips-Location. Die sanfte Landschaft hinter der Stadt spricht zudem ihr Ruhebedürfnis an. Den 248 Meter hohen Kreidefelsen- und Schafshügel Ditchling Beacon erklimmt man im Auto, das einzig flatterhafte in der Natur ist der „chalkhill blue“ genannte Schmetterling, der Silbergrüne Bläuling.

Von hier oben ist es kaum vorstellbar, dass Brighton immer auch Gegenkultur hervorbrachte: Die Sussex University, ein moderner Ziegelbau in drastischem Gegensatz zu den altehrwürdigen Oxforder Palästen, war dereinst eine Hochburg der Achtundsechziger Bewegung.